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Zur Eröffnung der Ausstellung "Augen-Blicke" - Fotografien von Michael Sieber am 5. Oktober 1996 im Historischen Zentrum Remscheid

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Michael Sieber, lieber Hausherr Urs Diederichs,

aus verschiedenen Gründen freue ich mich sehr über die Einladung zum heutigen Tage. Zu dieser Ausstellung und zu diesem Anlaß habe ich besonders gern meine Gedanken formuliert. Denn beides -das Historische Zentrum und das Remscheider Werkzeugmuseum mit dieser schönen Begegnungsstätte und die Ausstellung der Fotografien von Michael Sieber - hat viel mit der beruflichen Tätigkeit zu tun, die mich vor Jahren selbst nach Remscheid, an die Akademie Remscheid für kulturelle Bildung gebracht hat.

Kultur bedeutet ja nichts anderes, als zu lernen und zu lehren, das menschliche Leben in all seinen Facetten als einen Zusammenhang von sinnhaften und sinnlichen Prozessen, Formen und Strukturen zu begreifen, die wahrnehmbar sind und die durch den Menschen selbst erkannt und mehr oder minder frei gestaltet werden können. Das menschliche Auge, sofern es entsprechend sensibilisiert und auf das Erkennen solcher sinnhaften und sinnlichen Formen trainiert ist, übernimmt in allen Kulturen der Welt eine ganz wesentliche Rolle für die Wahrnehmung und Gestaltung dieser Welt durch den Menschen. Heute allgemein akzeptiert ist auch, daß wir in einer zunehmend visualisierten und visualisierenden Welt leben, daß durch das Zusammenwachsen der Nationen und Kontinente -insbesondere durch die neuen Bildmedien, aber auch durch die Verbildlichung der traditionellen Ausdrucksmittel, der Druckmedien, der darstellenden Künste und der Musik - daß das Bild eine ständig wachsende Bedeutung für die menschliche Kommunikation und für die Gestaltung des Alltagslebens erhält.

Ein Fotograf wie Michael Sieber, der täglich das Geschehen in dieser Stadt im Bild festhält und in der Form gedruckter Zeit-Dokumente öffentlich und gewissermaßen massenhaft verbreitet, trägt deshalb ganz entscheidend zur Wahrnehmung und Gestaltung dessen bei, was wir alle von dieser Stadt kennenlernen und was wir von ihr halten. Ich denke mir auch, daß es für einen visuell sensiblen Menschen nicht immer ganz einfach sein kann, in Remscheid seine Augen zufriedenzustellen - oder gar sie glücklich zu machen. Bevor der Eindruck des Äußeren zu einem Bild wird, das ich verinnerlichen kann, muß also noch etwas anderes in Erscheinung treten, das in oder hinter den Dingen zu suchen ist. Finden läßt es sich, wie man den hier ausgestellten Fotografien unschwer entnehmen kann.

Was mir zu Michael Siebers Augen-Blicken in und von Remscheid eingefallen ist und was mir an ihnen aufgefallen ist, möchte ich Ihnen in zwei verschiedenen Zusammenhängen darstellen:

  1. Augen-Blicke entscheiden darüber, was wirklich ist.
  2. Augen-Blicke sind ästhetische und ethische Momente.

Zum ersten Aspekt: Augen-Blicke entscheiden darüber, was wirklich ist.

Wer es bis heute noch nicht gewußt hat, weiß es spätestens, seit die Bildbearbeitung und Bildübertragung am Computer in den privaten Haushalt eingezogen ist: Wir leben im Zeitalter der medialen Manipulation. Endlich ist die absolute Fälschung möglich. Schon zu Zeiten der chemischen oder der mechanischen Retusche war bei guten Arbeiten nicht einwandfrei zu erkennen, daß beispielsweise das Gespenst von Schloß Burg oder die Ufos über dem Remscheider Stadtkegel frei erfunden und in eine "echte" Aufnahme hineinmontiert worden waren. Den am Computer bearbeiteten Bildern, wie es heute neutral heißt, sieht man so etwas nun überhaupt nicht mehr an.

Wir müssen uns also die Fragen: Was ist falsch, was ist echt? Was ist wahr, was ist Lüge? unter ganz anderen Gesichtspunkten stellen als nach dem Kriterium der technischen Machbarkeit. In gewisser Hinsicht ist das ein Fortschritt, denn diese Fragen zwingen uns zu einer inhaltlichen Stellungnahme, die weitaus mehr zu berücksichtigen hat als die Motivwahl und den Bildaufbau, die Wahl von Perspektive und Schärfentiefe, die Ausleuchtung und die Kontraststärke. Wenn wir heute beim Betrachten einer Fotografie fragen: "Ist das wirklich so gewesen?", oder: "Hat das wirklich so ausgesehen?", dann müssen wir zugleich mitfragen: "Warum sollte das so aussehen?", und: "Gehört das Bild, so wie es aussieht, zu meiner Wirklichkeit?"

Eine Sensibilisierung für diese Fragen hat Michael Sieber in Remscheid eindrucksvoll mit vorangetrieben. Ich möchte ihn versuchsweise einmal als einen "Fachmann für Lokalästhesie" bezeichnen, als jemanden, der das Gegenteil von Betäubung - also Anästhesie - betreibt. Viele der hier gezeigten Augen-Blicke sind Wirklichkeit, nicht etwa, weil die gezeigten Personen "echt" sind, sondern weil die Bilder einen Zustand oder einen schicksalhaften Moment einfangen, der unabhängig vom Zeitpunkt der Aufnahme oder von ihrem dokumentarischen Wert das Empfinden von Menschen in ihrer Umgebung oder auch die Widersprüchlichkeit einer punktuellen Situation sinnlich nachvollziehbar wiedergibt.

Aber was ist nun die Wirklichkeit des Augen-Blicks? Paul Watzlawick, der Klassiker unter den Wirklichkeitsforschern, der die komplizierten Spielregeln menschlicher Wahrnehmung und Interaktion allgemein verständlich auf einen Punkt gebracht hat, schreibt dazu in seinem rund 20 Jahre alten Hauptwerk "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?":

"Die Geschichte der Menschheit zeigt, daß es kaum eine mörderischere, despotischere Idee gibt als den Wahn einer 'wirklichen' Wirklichkeit (womit natürlich die eigene Sicht gemeint ist), mit all den schrecklichen Folgen, die sich aus dieser wahnhaften Grundannahme dann streng logisch ableiten lassen. Die Fähigkeit, mit relativen Wahrheiten zu leben, mit Fragen, auf die es keine Antworten gibt, mit dem Wissen, nichts zu wissen, und mit den paradoxen Ungewißheiten der Existenz, dürfte dagegen das Wesen menschlicher Reife und der daraus folgenden Toleranz für andere sein."

Eine solche Akzeptanz relativer Wahrheiten fordert uns heraus: zur unmittelbaren, personalen Kommunikation, um Übereinstimmung herzustellen. Um zu wissen, was wirklich ist, müssen wir uns nämlich grundsätzlich vergewissern, wer mit uns unser Wirklichkeitsverständnis teilt. Das heißt: Wir wollen wissen, mit wem wir in einem Boot sitzen, wer auf unserer Seite ist und wer Menschen und Dinge so wahrnimmt, wie wir sie wahrnehmen. Und, was noch wichtiger ist: Wir brauchen das Gespräch - auch über Bilder -, um eine eigene Einstellung, eine für uns selbst und für andere erkennbare und definierbare Position zu finden.

Ein Beispiel: Beachten Sie die Momentaufnahmen, deren historischen Hintergrund in Remscheid fast jeder kennt, der sich aber auch Fremden erschließt, die nicht wissen, welche faktischen Ereignisse das Motiv abgegeben haben. Trotzdem fordern uns diese Bilder dazu auf, uns selbst und anderen mitzuteilen, daß und - vor allem - wie wir diese Ereignisse damals wahrgenommen haben und inwiefern sie für uns und für die Menschen in Remscheid wirklich geworden sind.

Das spontane Arrangement mit und um einen soeben nicht zum Bürgermeister gewählten Stadtdirektor sagt natürlich viel mehr Wirkliches aus über Politik und über Machtgefühle, als es mancher Zeitungskommentar ausdrücken kann. Und: Ein Bürgermeister, der macht- und fassungslos vor den Folgen einer Katastrophe in seiner Stadt abgebildet ist, gewinnt menschliches Format in einer Weise, die ohne die Akzeptanz beider Wirklichkeiten kaum darzustellen wäre. Trotzdem: Wir müssen uns darüber mit unserem Nachbarn verständigen, damit uns selber klar wird, wie stark diese und andere Augen-Blicke das Geschehen in der Stadt Remscheid prägen und auf welche Weise sie darüber mit entscheiden, was Politik in dieser Stadt ausmacht. Selbst so ausdrucksstarke Bilder bedürfen also der Verständigung über sie, um zu unserer Wirklichkeit zu gehören.

Man sagt bekanntlich: "Ereignisse sind erst dann wirklich, wenn die Medien darüber berichten." Das Bild, insbesondere die Fotografie, hat für die Wahrnehmung über und mit den Medien eine zentrale Bedeutung, wie wir wissen. Aber ebenso gilt: Unsere persönliche Wahrnehmung wird erst dann zur Wirklichkeit, wenn sie von anderen geteilt wird, wenn wir Gelegenheit erhalten, uns über die Bilder zu verständigen. Das heißt auch: Wenn Bilder öffentlich werden - in der Zeitung, in einer Ausstellung, auf einem Plakat.

So betrachtet, ist die Fotografie als Bildgestaltung -die dokumentarische ebenso wie die künstlerische - im Dienste der Wirklichkeitsfindung ein zutiefst sozialer Akt. Der zweite Abschnitt meiner Überlegungen zu dieser Ausstellung von Michael Sieber heißt deshalb:

Augen-Blicke sind ästhetische und ethische Momente.

Ein Augen-Blick aus der Sicht eines Fotografen stellt zwangsläufig immer Beziehungen her: Beziehungen zwischen Licht und Schatten, zwischen Formen und Gestalten, zwischen Menschen und ihrer Umgebung. Solche Beziehungen können niemals objektiv dargestellt werden; allein die Wahl der Perspektive, des Ausschnittes und der Belichtung ist ein intentionaler Vorgang, also eine mehr oder minder bewußte, in jedem Fall aber gedanklich und sinnlich gesteuerte Entscheidung.

Solch eine Aufgabe kann von technischen Medien allein nicht gelöst werden. Automatische Kameras, Computer und Bilddatenbanken können uns wohl Stoff liefern, Informationsmaterial und Abbildungen, aber sie können uns keinesfalls von der Verantwortung befreien, diese Bilder in einen Bezug zu unserer unmittelbaren Wirklichkeit zu setzen und - damit zugleich - uns selbst zu einer persönlich und räumlich definierbaren Wirklichkeit zu bekennen.

Es ist eine subjektive Wirklichkeit, und es sind relative Wahrheiten, die Michael Sieber in seinen Fotografien festhält. Die Ästhetik seiner Bilder greift Momente und Zusammenhänge heraus, die keineswegs jeder Fotograf genau so und auf diese Weise darstellen würde. Aber: Michael Sieber macht überhaupt keinen Hehl daraus, welche Wirklichkeit er sieht und inwiefern er sie uns zur Wahrnehmung und zum Gespräch anbietet. Michael Sieber gestaltet seine Sicht auf Remscheid, auf die Stadt - vor allem aber auf die Menschen in dieser Stadt - eindeutig parteilich. Er trifft Prominente, wo und wie sie nicht prominent sind, er zeigt Milieus und Umgebungen, die nicht im Hochglanzprospekt der Stadtwerbung zu finden sind, und er nimmt Partei für die Kinder und Jugendlichen, deren Bedürfnisse in dieser Stadt so oft zu kurz kommen.

Michael Sieber zeigt Kontraste und Konflikte, wo wir uns sonst so leicht von der Friede Freude - Eierkuchen - Bilderwelt der Werbung und des Fernsehens einlullen lassen. Er deutet auf Widersprüche, wo wir - auch politisch -zur Einstimmigkeit aufgefordert werden. Er macht unbequem, was uns angesichts der täglich mitgeteilten weltweiten Katastrophen im Fernsehen immer noch passabel und handhabbar vorkommt. So stelle ich mir eine engagierte Fotografie vor, die auch im anonymisierten Multimedia-Zeitalter Bestand hat und durch keine Datenbank zu ersetzen ist.

Sehen Sie sich den Jungen in der Obdachlosenunterkunft an, in der Bett an Bett steht: Der Spielautomat im Hintergrund - ein blanker Zynismus. Oder die verzweifelten Eltern mit ihren kleinen Kindern in den abbruchreifen Milieus. Auch das ist wirklich in einer Stadt, deren Bürger - wie ich wahrgenommen habe - recht stolz sind auf ihre Häuser, Häuschen und Wohnungen, auf die landschaftlich wunderschöne Umgebung, - in einer Stadt, deren Bürger viel Wert legen auf ein vorzeigbares Äußeres, auf Sauberkeit und Ordnung, - wie man landläufig sagt.

Es sind zum Teil erschreckende, zum Teil schöne, in jedem Fall erkenntnisfördernde Milieu- und Sozialstudien, die erst durch die Bildgestaltung, durch den wissenden und erfahrenen Blick des Fotografen eine emotionale Wirkung haben - und damit zu mehr werden als nur zu einem Bild. Durch die Ästhetik der Augen-Blicke lernen wir Entscheidendes für unser ethisches Weltverständnis. Michael Sieber sagte es mir in unserem Vorgespräch: "Es geht uns hier in Remscheid verdammt gut - verglichen mit anderen Ecken der Erde. Aber ich sehe, wieviel Elend und Verzweiflung sich selbst hier breitmacht - und die Plätze und Flächen des Elends werden immer größer."

Ich möchte zum Schluß noch einmal den Begriff der "Lokalästhesie" aufgreifen. Was mir an Michael Siebers Bildern gefällt, was in dieser Ausstellung deutlich wird und was im engeren Sinne wirklich und moralisch ist: Michael zeigt "sein" Remscheid, über das wir uns jetzt anschließend unterhalten können. Das ist tatsächlich ein anderes Remscheid als das, was jeder für sich kennt. Das ist auf keinen Fall irgendeine werbewirksame Schokoladenseite, aber es ist auch kein Unterkriechen im Häßlichen oder Gemeinen. Es sind so viel witzige, engagierte und intelligente Konstruktionen von Remscheider Wirklichkeit dabei, daß wir als Betrachter dieser Ausstellung nur begeistert sein können und Lust bekommen, uns in dieser Stadt und dieser Region zu engagieren - im Bild, sozial, pädagogisch, kulturell und ganz praktisch - oder wie auch immer.

"Wer wegsieht, macht sich schuldig." Dieser Appell gilt unverändert. Er gilt für soziales Elend, er gilt für den gesellschaftlichen Alltag, aber er gilt auch für die Wahrnehmung all des Schönen und Hoffnungsvollen, das neben dem Abstoßenden und Banalen existiert und genauso danach verlangt, daß wir es ernst nehmen, schützen und pflegen. So können wir beispielsweise in den Gesichtern der Mütter, der Kinder und Jugendlichen, die aus welchen Gründen auch immer aus fernen Gegenden der Welt hier in Remscheid gelandet sind, viel Stolz, viel Lebenslust und Hoffnung wahrnehmen.

Michael Siebers Bilder sind - bei allem Engagement - keine platte Elendsfotografie, und sie diffamieren ihre Motive selbst dort nicht, wo Umgebung und Arrangement auf einen solchen Effekt schließen lassen könnten, wie beispielsweise auf der Parkbank, im Waschsalon oder in deutschen Wohnzimmer-Idyllen. "Nur Spießer nennen Spießer Spießer". In diesem Sinne verstehe ich Michael Siebers Augen-Blicke als einen intelligenten und sinnlichen Appell gegen Selbstzufriedenheit, Gleichgültigkeit und Intoleranz. Mir machen sie Mut, die Menschen und Dinge in unserer Stadt noch genauer zu betrachten, im wahrsten Sinne des Wortes hinter die Fassaden zu schauen und dabei zu lernen, die jeweils sehr unterschiedlichen Wirklichkeiten, die es auch in Remscheid gibt, zu akzeptieren - was bedeutet, die einen zu verändern helfen und die anderen zu mögen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.